Warum ich ein Buch schreibe

Seit über drei Jahren schreibe ich ein Buch über mein Leben. Aber warum?

4/16/20253 min read

Seit über drei Jahren schreibe ich ein Buch über mein Leben. Normalerweise sage ich, dass ich anhand meiner Erfahrungen aufzeigen will, wie jede noch so kleine Grenzüberschreitung Teil eines patriarchalen Gewaltsystems ist, das Vergewaltigungen und Femizide ermöglicht. Ich sage, dass mein Leben und meine Erfahrungen nicht berichtenswert sind, weil sie so schrecklich oder so außergewöhnlich sind - sondern gerade, weil sie so durchschnittlich sind: Jede dritte Frau in Deutschland und Österreich ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Ich sage, dass mein Buch andere Betroffene ermutigen soll, wütend zu sein - nicht auf sich selbst, sondern auf die Täter und auf eine Gesellschaft, die diese Taten ermöglicht.

Warum ich dieses Buch wirklich schreibe

Aber das, wozu meine Texte andere ermutigen sollen, will mir selbst nicht gelingen. Inzwischen weiß ich: Eigentlich schreibe ich das Buch, um mich von meiner Unschuld zu überzeugen - und scheitere dabei an mir selbst. Ich glaube mir nicht, kämpfe gegen die Windmühlen meiner Sozialisierung an, die mir zuflüstern: “Naja. Ein bisschen selbst schuld bist du schon auch irgendwie, oder?” Dieser Glaubenssatz drängt sich auch von außen auf, wenn ich entfernten Freund*innen von meinen traumatischen Erfahrungen erzähle und die mich dann fragen: “Nimm’s mir nicht bös, aber ich frag’ mich da schon: Wieso gehst du denn einfach mit fremden Männern mit?”

Die Frage nach dem Warum lähmt mich, denn es gibt keine richtige Antwort. Keine Begründung ist ausreichend, um zu erklären, warum ich mich habe vergewaltigen, missbrauchen und nötigen lassen, mehrmals, von unterschiedlichen Typen unterschiedlichster Herkunft und Religion und jeder Altersstufe. Warum ich das mit mir habe machen lassen. Warum ich es nicht vorhergesehen, warum ich mich nicht gewehrt, und warum ich aus meinen Fehlern nicht gelernt habe.

Das liegt daran, dass es die falschen Fragen an die falsche Person sind.

Die richtigen Fragen – und wer sie beantworten müsste

Die richtigen Fragen sind: Warum hast du ihr Nein ignoriert? Warum hast du ihre Situation ausgenutzt? Warum hast du sie eingesperrt? Warum hast du deine Freunde mitgebracht? Warum hast du so lange auf sie eingeredet, bis sie nachgegeben hat? Warum hast du dir einfach genommen, was du wolltest? Warum hast du kein Kondom benutzt? Warum hast du immer weiter gemacht, um dich selbst zu befriedigen, völlig egal, wie sie sich dabei fühlt? Warum hast du sie eingeschüchtert, sie manipuliert, ihr ein schlechtes Gewissen gemacht, sie abgewertet, dich über sie lustig gemacht? Warum hast du nicht aufgehört? Warum hast du nicht aufgehört? WARUM HAST DU NICHT AUFGEHÖRT? Was ist falsch mit dir? Wie krank muss man sein? Was für ein Welt- und was für ein Frauenbild muss man haben? Und wie kannst du jetzt einfach dein Leben weiterleben, als sei nichts passiert?

Aber die Täter stehen für diese Fragen nicht zur Verfügung. (Außer vor Gericht. Und selbst dort sind Betroffene bekanntlich nicht geschützt vor der tief verwurzelten Logik der Täter-Opfer-Umkehr.) Wer übrig bleibt, bin ich: Ich, die es hätte wissen müssen, die sich nicht in diese Situation hätte bringen dürfen, die das nicht mit sich hätte machen lassen dürfen. Ich werde es nicht los, das hätte hätte hätte, egal wie viele Studien ich lese und wie oft mir meine Therapeutin sagt, dass ich nicht schuld bin.

Die Wurzeln der Scham

Die Scham muss die Seiten wechseln, sagen wir heute, aber sie ist fest mit mir verwachsen. Sie ist ein Teil von mir, seit der Blick meines 11-jährigen Mitschülers unverhohlen zwischen meinen Brüsten und einer Kiste Orangen hin- und herwanderte und er anerkennend bemerkte, die seien ja fast gleich groß. Ich hatte ihn nicht um seine Einschätzung gebeten. Damals fehlten mir die Worte dafür, aber ich fühlte mich objektiviert, reduziert und sexualisiert aufgrund eines körperlichen Merkmals, auf das ich absolut keinen Einfluss hatte. Und gleichzeitig war ich geschmeichelt. Das war es doch, was ich laut der Mädchenzeitschriften erreichen sollte: den Jungs gefallen. Männliche Aufmerksamkeit, egal welcher Art, wurde zur Währung, mit der ich meinen Selbstwert ernährte. Zwar fühlte ich mich nie sicher mit Männern, aber ich spielte eine Rolle, von der ich dachte, dass sie mich schützen würde. Ich dachte: Wenn ich mich selbst noch mehr sexualisiere als sie, dann kann mir nichts passieren. Aber meine selbstbewusste Logik hat mir nicht geholfen. Immer wieder war ich Männern ausgeliefert, die dachten und bis heute denken, sie könnten sich alles nehmen, was sie wollen, ohne Angst vor ernsthaften Konsequenzen haben zu müssen - und damit sogar Recht behalten haben.

Ich gebe trotzdem nicht auf. Ich schäle die klammen Schichten der Scham und der verbitterten Selbstvorwürfe von mir ab und passe auf, dass keine neuen dazukommen.

Und irgendwann werde ich es glauben, wenn ich sage: Ich bin nicht schuld.

Bis dahin schreibe ich.